„Gerade bei Forsythien ist der Schnitt KEINE Wissenschaft, denn die sind wie Unkraut! Falsch machen kannst du dabei nicht viel."
Gartenforum 2012
Der Untertan
Im Verständnis des deutschen Bürgertums hat die Demokratie zwei Hauptaufgaben: dem Bürger gewisse Grundrechte, vor allem das Recht auf Mittbestimmung (Wahl) zu garantieren und das Recht auf Eigentum zu schützen. In dieser Vorstellung steht der Begriff Gesellschaft zuerst für Individualrechte, eine gemeinschaftliche Verantwortung für alle ist nachrangig. Ausdruck einer funktionierenden Demokratie ist damit vor allem das Eigentum, in seiner reinsten Form der Grundbesitz. So pflegt der Bürger fast zwanghaft seinen Vorgarten, repräsentiert dieser ja seinen Besitz, seinen Wert; als Eigentümer und Person. Besonders beliebt ist die Forsythie. Im Vorgarten steht sie oft einzeln als Strauch oder integriert als Hecke. Obwohl sie im Jahr nur 4-8 Wochen blüht, ist die ansonsten unscheinbare Pflanze ein zeitloser Hit.Vielen Deutschen unbekannt, ist die Zeigepflanze Forsythie ein offizieller Indikator für den kommenden Frühling.
Ein „Forsythien-Vater“ kontrolliert regelmäßig ab dem Spätwinter die Forsythien an der Hamburger Lombardsbrücke. Zeigen diese ihre ersten Blüten wird das unverzüglich dem Deutschen Wetterdienst in Offenbach gemeldet. Diese deutsche Tradition besteht bereits seit dem 2. Weltkrieg. Wie viele Bräuche in westlichen Demokratien hat auch die Nutzung der Forsythie als Vorgartenpflanze einen widersprüchlichen Effekt. Die auch Goldglöckchen genannte Pflanze ist viel genutzter Ausdruck individuellen Gestaltungswillens im eigenen Vorgarten. Das eigene Haus, das eigene Grundstück wird mit Stolz nach außen ordentlich und gepflegt präsentiert, darf aber auch nicht aus der Menge herausstechen, nicht zu bunt, zu quirlig wirken. So lässt sich die anspruchslose Forsythie sehr einfach beschneiden, auch Laien könne sie ohne Probleme in einen rechten Winkel zwingen, die Höhe der Hecke der Norm anpassen. Doch ihre Popularität hat andererseits zur Folge, dass in vielen Gegenden Deutschlands ein Vorgarten dem Anderen gleicht, ein Haus dem Nächsten. Ist die Forsythie in Deutschland so beliebt weil sie pflegeleicht ist und pünktlich wie die Stechuhr jedes Frühjahr ihre giftig-gelben Blüten trägt? Oder weil sie am Ende des dunklen Winters der erste Hoffnungsschimmer des nahenden Sommers, ein Licht am Ende des Tunnels, ein Zeichen der Vorfreude ist?
So wie sich die Forsythie ihren Platz im Vorgarten des deutschen Kleinbürgers gesichert hat, so besetzt dieser seinen kleinen Platz in der parlamentarischen Demokratie – Im Spannungsfeld zwischen Verlässlichkeit und sturem Durchhalte-vermögen einerseits und dem gelegentlichen optimistischen Glauben an Veränderungen andererseits; der Hoffnung auf einen neuen Frühling.
Berlin 2018
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